darüber nachzudenken, was es mit seinen mittelalterlichen Vorstellungen von seinem Gottesgnadentum in Wirklichkeit auf sich hatte. Wilson und Scheidemann nehmen sich vor, ihn zu stürzen, und sein Thron fällt zusammen wie ein Kartenhaus, 22 Kronen "rollen aufs Pflaster, und niemand will sie aufheben".
13. November. Vereinzelt kommen Breitscheider Soldaten an, sie erzählen von der Aufregung und Schießerei in Berlin, die Eisenbahnzüge seien furchtbar überfüllt gewesen. Ich lese von der Bewegung im Reich und sehe, daß sich die Revolution fast überall ruhig vollzieht, und ich denke dabei, daß es gut war, daß wir eine straff organisierte Sozialdemokratie hatten. Die Behörden waren überall so klug, keinen Widerstand zu leisten, (*) sonst hätte es furchtbares Durcheinander und Elend gegeben, weil unsere Ernährung in den großen Städten nur bei Aufrechterhaltung des Verkehrs und der Ordnung einigermaßen gesichert ist. Große Erregung hat sich der Gemüter in Stadt und Land bemächtigt.
14. November. Vorgestern abend fanden in Herborn und Dillenburg Volksversammlungen statt, die der Arbeiter- und Soldatenrat dieser Städte öffentlich einberufen hatte. Sie sollen zwar einen ruhigen, aber doch ziemlich kläglichen Verlauf genommen haben. Ein Lehrer aus Dillenburg besuchte mich heute. Er erzählte, daß auch der Landrat der Versammlung in Dillenburg beigewohnt habe. (Jedenfalls aus Angst und in der Meinung, er müsse nun gute Miene zum bösen Spiel machen. Mancher wechselt jetzt die Farbe wie ein Chamäleon.) Auch ein Schuhmacher habe gesprochen. Einige ganz ungeeignete Elemente seien dann in den Arbeiter- und Soldatenrat gewählt worden. Und diese sollen nun vorläufig die Macht haben und unsere Geschicke mitbestimmen helfen! Man darf die Sache nicht zu schwer nehmen. In solch hochkritischen Zeiten muß man die Linke gewähren lassen, (?) damit die äußere Ordnung aufrecht erhalten bleibt. Der Lebenspendel eines Volkes kommt früher oder später doch wieder in die ihm eigenen Schwingungen.
Heute Nachmittag fliegt ein Flieger von Westen her ziemlich niedrig über unser Dorf. Ein Vorbote von unserem zurückkommenden Heer. - Im Laufe des Novembers kehrten vereinzelt Breitscheider Krieger heim und schlüpfen still und unvermutet in ihr heimisches Nest. Keine Ehrenpforte für sie, kein öffentlicher Empfang! Wie ganz anders hatten wir uns ihre Rückkehr gedacht!
Vom Heeresrückzug November und Dezember 1918.
24. November. Totensonntag. Heller Sonnentag. Die Breitscheider Jugend geht über Gusternhain aufs "Alte Feld", um Truppen vorbeifahren zu sehen. Es sind nur Lastautos zu sehen.
28. November. Wieder laufen Schuljungen und junge Mädchen aufs "Alte Feld". Mein 9 jähriger Neffe Otto Göbel berichtet, daß er 903 Reiter gesehen habe. Einer habe einen Abstecher nach Willingen gemacht, um seine Mutter mal zu sehen. -
29. November. Die ersten Truppen in Breitscheid! Vormittags zieht eine Trainkolonne durchs Dorf, teils den Medenbacher, teils den Erdbacher Weg hinab. Die Leute laufen zusammen. Ein ungewohntes Bild im stillen Dorfleben, daher der besondere Reiz, der von ihm ausgeht. Um 2 Uhr nachmittags kommt der Train an, der in Breitscheid Rast machen will. 39 Wagen. Sie fahren auf der Pfarrwiese auf. Jeder Wagen hat 2 kleine Pferde vor, weiße, schwarze, braune oder gelbe. Breitscheider Schuljungen waren dem Zuge entgegengegangen und saßen auf dem Bock neben den Fahrern. Der Erdbacher Weg am Pfarrgarten stand vol-
*) Über das alles gehen ja heute um 1930 die Meinungen auseinander. Nachher finden sich viele Gescheite, die wissen, wie es hätte gemacht werden müssen, und auch -Mutige! -
(**) Dies Fragezeichen habe ich selbst heute - 1932 - eingeschoben. Wieviel Elend der Nachkriegszeit wäre uns erspart geblieben, wenn wir damals den rechten Mann gehabt hätten, der unser Volk davor bewahrt hätte, wie ein Bankrotteur zu handeln, der selbst seine letzte Habe zerschlägt!
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von Kornelia Pelz übersetzt
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